Montessori-Lehrgang der aim: „Es gibt viele Aha-Erlebnisse im Kurs“

Interview mit Eva Schumacher, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft und Grundschulpädagogik

Im Gespräch mit Eva Schumacher, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft und Grundschulpädagogik und Leiterin des aim-Lehrgangs „Hilf mir, es selbst zu tun!“ – Bildung und Erziehung nach dem Montessori-Konzept.

Redaktion: Frau Prof. Schumacher, was macht den Lehrgang „Hilf mir, es selbst zu tun!" – Bildung und Erziehung nach dem Montessori-Konzept im Kern aus?

Prof. Dr. Eva Schumacher: Unser Montessori-Lehrgang verfolgt den tieferen Sinn, Erkenntnisse aus der heutigen Bildungsforschung und die alten, aber immer noch hochaktuellen Elemente der Montessori-Pädagogik für Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte und Eltern zugänglich zu machen. Individualisiertes Lernen ist dabei ein großes Thema, der Montessori-Lehrgang bietet hier die Möglichkeit, sehr dezidiert zu erfahren, was dieses Konzept wirklich will und meint. Und zwar auf eine Art, die nicht dogmatisch ist. Unsere Idee ist es, die Montessori-Pädagogik über insgesamt etwa neun Monate so zu veranschaulichen, dass man als Teilnehmende oder Teilnehmender sich das heraussuchen kann, was für den eigenen Standort tauglich ist.

Redaktion: Wie gelingt Ihnen das? Inwiefern finden die individuellen Situationen der Teilnehmenden in Ihrem Lehrgang Berücksichtigung?

Schumacher: Die individuellen Situationen spielen eine wichtige Rolle in unserem Montessori-Lehrgang. Das Besondere an diesem Kurs ist, dass wir sehr standortbezogen agieren. Es gibt zu Beginn ein Modul, bei dem die Voraussetzungen der Teilnehmenden sehr genau unter die Lupe genommen und reflektiert werden, bevor es an den Input geht. Auch im Verlauf der unterschiedlichen Module und der Vorstellung der Materialbereiche geht es immer darum zu reflektieren: Ist das für mich von Bedeutung? Ist das für mich und meine Arbeit interessant? Kann ich da einen Schwerpunkt setzen? Die Teilnehmenden sind dazu aufgefordert, sich diese Fragen immer wieder zu stellen. Am Ende des Lehrgangs gibt es noch ein Modul, bei dem es um die Implementierung des Gelernten geht. Dabei wird noch einmal sehr genau geschaut, was jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer an Wissen erworben, was er oder sie erfahren hat und was zur eigenen Arbeit und zur Einrichtung passt. Es geht dabei darum herauszufinden, was jede und jeder Einzelne nachhaltig mitnehmen kann. Dafür werden auch ganz konkret die nächsten Schritte erarbeitet und formuliert.

Redaktion: Welche Inhalte werden in Ihrem Montessori-Lehrgang vermittelt?

Schumacher: Zunächst geht es um den grundlegenden Kern der Montessori-Pädagogik. Was hat sich Maria Montessori dabei vor mehr als hundert Jahren gedacht? Wie hat sie ihr Konzept entwickelt? Was beinhaltet das für Schwerpunkte aus pädagogischer Sicht? Abgedeckt werden dabei alle Themen, die in der Bildung und Erziehung von Kindern relevant sind. Das fängt mit Sprache an, geht über Mathematik und den Bereich kosmische Erziehung; dieser umfasst alle sachkundlichen Themen sowie geografische und geschichtliche Zusammenhänge. Dabei geht es immer darum, dem Kind neben dem Blick auf die Details auch jenen auf das große Ganze zu geben. Dann gibt es Kunst, die religiöse und die Sozialerziehung. Auch die Sinneswahrnehmung spielt eine große Rolle sowie Übungen des täglichen Lebens. Damit sind praktisch alle relevanten Erziehungs- und Bildungsbereiche abgedeckt, die nicht nur in den vorschulischen Einrichtungen, sondern auch im Regelschulbetrieb eine Bedeutung haben.

Redaktion: Können Sie das Konzept der Freiarbeit nach Montessori, das ebenfalls in Ihrem Lehrgang vermittelt wird, etwas genauer beschreiben?

Schumacher: Bei der Freiarbeit darf das Kind selbst darüber entscheiden, mit was es sich beschäftigen will, für wie lange und ob es das alleine oder mit einem anderen Kind zusammen machen möchte. Diese Freiräume gestalten die Erziehenden in der Montessori-Pädagogik aber nicht beliebig nach dem Motto: Wenn es gerade passt, macht man das. In Montessori-Schulen ist die freie Arbeit in eine klare Struktur eingebettet, das heißt, sie findet obligatorisch jeden Tag statt, wird aber nicht den ganzen Tag praktiziert, sondern über einen definierten Zeitraum – der in der Regel zwei Schulstunden umfasst. Die kleineren Kinder in den vorschulischen Einrichtungen sind diesbezüglich hingegen völlig frei und beschäftigen sich situativ mit den Lernmaterialien gemäß ihrer eigenen, individuellen Konzentrationsfähigkeit. Viele Teilnehmende können zunächst gar nicht glauben, dass Kinder in Stille so konzentriert arbeiten können und wollen. Aber das ist tatsächlich so. Das liegt unter anderem daran, dass Kinder, nachdem die Freiarbeit vorbei ist, einen Platz haben, an dem sie die Materialien so abstellen können, dass sie am nächsten Tag direkt dort weitermachen können, wo sie aufgehört haben. Auf diese Weise arbeiten Kinder dann zum Beispiel drei Wochen konzentriert am Einmaleins. Da gibt es keine schrillende Schulglocke oder eine Lehrkraft, die sagt: „Räum jetzt mal alles weg, jetzt ist das nächste Fach dran.“ Das Kind weiß: „Ah, ich muss jetzt aufhören, kann morgen hier aber weitermachen.“ Das motiviert und fokussiert ungemein.

„Eine Qualität, die immer wieder bei Montessori-Materialien auftaucht: weg vom Abstrakten, hin zum für Kinder Begreiflichen.“

Prof. Dr. Eva Schumacher

Redaktion: Wie praxisnah werden die Montessori-Konzepte in Ihrem Lehrgang vorgestellt?

Schumacher: Unser Lehrgang hat eine sehr praxisnahe Ausrichtung, denn Maria Montessori war eine Wissenschaftlerin, die ihr Konzept nicht nur auf dem Reißbrett entwickelt, sondern auch immer die Praxis mitgedacht hat. Sie fragte sich stets: Was muss ich den Kindern konkret geben, um ihrer Entwicklung gerecht zu werden? Sie selbst hat schon Materialien entwickelt, ihr Sohn hat das fortgeführt. Diese Materialien sind komplex und genial und wenn Kinder die Systematik dahinter verstehen, können zum Beispiel schon Vier- oder Fünfjährige in Zahlenräumen bis in die Hunderttausende rechnen. Dafür müssen aber die Pädagoginnen und Pädagogen zunächst verstehen, wie die Materialien funktionieren. Im Kurs läuft die Vermittlung so, dass der Grundgedanke Montessoris zu den unterschiedlichen Materialbereichen in einem Impuls-Vortrag dargestellt wird. Anschließend bieten sehr erfahrene Montessori-Pädagoginnen und -Pädagogen den Kindern in einem längeren Praxisteil die Handhabung der Materialien dar. Darüber hinaus werden auch Ideen vermittelt und ausgetauscht, wie man Materialien selbst erstellen kann. 

Redaktion: Können Sie uns ein Beispiel für solche Montessori-Materialien geben?

Schumacher: Das Markenspiel zum Beispiel begeistert mich immer wieder. Es ist ein Arbeitsmaterial für das Erlernen der Grundrechenarten, sobald das Kind die Zahlen lesen kann: Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Ich erinnere mich noch gut, als ich in der Grundschule war, wie das Teilen von der Lehrerin sehr abstrakt an der Tafel erklärt wurde. Beim Markenspiel wird das Rechnen hingegen sehr konkret und haptisch. Es sind Aufgabenkarten dabei, wie zum Beispiel: 8428 geteilt durch 4. Zum Lösen der Aufgabe findet das Kind Zahlenplättchen, die so in allen anderen Mathematik-Materialien wiederkehren: 1000er-Plättchen, 100er-Plättchen, 10er-Plättchen und 1er-Plättchen. Jetzt kann das Kind die Zahl 8428 aus diesen Plättchen zusammenlegen. Dann gibt es Figuren, wie etwa beim Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel, die den Teiler symbolisieren. Bei „durch 4“ hätte man also vier Figuren. So kann das Kind dann die Plättchen gleichmäßig auf die Figuren verteilen. Wenn es dabei an den Punkt kommt, an dem es zum Beispiel nur noch ein 10er-Plättchen, aber vier Figuren hat, kann es das 10er-Plättchen gegen zehn 1er-Plättchen austauschen und weiter verteilen. So wird das Kind visuell, haptisch und auch kognitiv an mathematisches Denken herangeführt. Das ist eine Qualität, die immer wieder bei Montessori-Materialien auftaucht: weg vom Abstrakten, hin zum für Kinder Begreiflichen.

Redaktion: Was macht Maria Montessoris Konzept heute noch relevant und wo hilft es besonders in der frühkindlichen Erziehung?

Schumacher: Maria Montessori ging davon aus, dass Kinder sehr wissbegierig sind und einen ausgeprägten Aktivitätsdrang haben: Sie wollen etwas tun und Dinge gut machen. Dafür brauchen sie keinen Druck von außen oder „Du musst“-Anforderungen. Maria Montessori ging davon aus – und das wird heute auch von der Anthropologie gestützt –, dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter gar nicht erziehbar sind. Erziehen kann man erst, wenn auch verstanden wird, worum es geht. Die Erzieherin oder der Erzieher hat die Verantwortung zu schauen, dass sich das Kind in die Gemeinschaft einpasst und dass es ihm gut geht. Auch die sogenannten Übungen des täglichen Lebens bieten hinreichende Gelegenheiten, dies zu kultivieren.. Dabei werden Kinder in alle relevanten Arbeiten, die in der Umgebung stattfinden, einbezogen. Sie dürfen beispielsweise den Tisch decken, Tee kochen, Kerzen anzünden, Blumen pflegen – alles, was so anfällt. Selbst bei Dingen wie dem Schneiden mit scharfen Messern oder das Hantieren mit dem Feuerzeug ist die Antwort nicht: „Dazu bist du jetzt noch zu klein.“ Sondern wenn das Kind danach verlangt, bekommt es eine Einführung. Das Kind wird also sehr behutsam platziert, sodass es jeden Handgriff sehen kann, und die Erzieherin oder der Erzieher zeigt dem Kind, wie beispielsweise eine Kerze angezündet, Obst geschnitten oder Flüssigkeit umgefüllt wird. Wenn die Erzieherin oder der Erzieher dann den Eindruck hat, das Kind hat erfasst, worum es geht und welche Vorsicht angebracht ist, dann entlässt sie das Kind in die Eigenverantwortung, auch, wenn sie oder er ihm natürlich zunächst noch eine Weile zur Hilfe bereit über die Schulter schaut.

Redaktion: Wie nehmen Sie das Feedback auf den Montessori-Lehrgang bisher wahr?

Schumacher: Es gibt viele Aha-Erlebnisse im Kurs – oftmals in Bezug auf die Entwicklung des Kindes. Maria Montessori war hier nicht in allen, aber in vielen Punkten ihrer Zeit voraus, und vieles in ihrer Pädagogik wird heute von der modernen Hirnforschung bestätigt. Daher fallen oft Sätze wie „Ach, dann kann ich das von Kindern also noch gar nicht erwarten“. Oder „Wenn man so etwas schon früher gewusst hätte!“. Neben den Inhalten wird im Lehrgang auch der kollegiale Austausch zwischen den Teilnehmenden immer sehr gelobt.

„Hilf mir, es selbst zu tun!"

Das über hundert Jahre alte Konzept Maria Montessoris ist auch heute noch aktuell und beliebt.
Was sind die zentralen Elemente, Prinzipien und Zielsetzungen und wie kann man allen Kindern gerecht werden und ihnen bei der nachhaltigen Entwicklung ihrer individuellen, emotionalen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten behilflich sein?

Mit dem aim Montessori-Lehrgang werden pädagogische Fachkräfte in Krippe und Kita, aber auch Lehrkräfte an Grund- und Sonderschulen, in die Montessori-Pädagogik eingewiesen und erhalten Unterstützung und Begleitung bei der individuellen Implementierung in der pädagogischen Einrichtung. 
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Redaktion: Zum Abschluss: Was fasziniert Sie persönlich an den Konzepten von Maria Montessori?

Schumacher: Was mich mehr und mehr fasziniert, ist, dass Maria Montessori die kindliche Perspektive sehr stark im Fokus hatte. Die Kritik an ihr ist ja oft, dass man über all die individuelle Fokussierung die Gemeinschaft vergisst. Das ist aber gerade nicht der Fall. Maria Montessori hat den Zusammenhang zwischen Freiheit und Bindung sehr dezidiert aufgezeigt. Es geht immer darum, dem Kind Freiräume zu geben, gleichzeitig sieht sie bei der oder dem Erziehenden auch die Verantwortung dafür, dass sich das Kind konform beziehungsweise gemeinschaftsförderlich verhält. Ein Kind, das sich in einem Gruppenraum befindet und dort nicht zurechtkommt und stört, indem es zum Beispiel anderen Kindern etwas vom Tisch fegt, wird nicht sich selbst überlassen nach dem Motto: Das erledigt sich von selbst. Das Kind wird auch nicht ausgeschimpft, sondern ihm wird in einer wohlwollenden, wertschätzenden Haltung begegnet. Man nimmt es an der Hand und sucht mit ihm etwas, das zu ihm passt, macht ihm ein neues Angebot, zeigt ihm ein neues Material. Und dann erfährt das Kind etwas, das von äußerster Wichtigkeit ist: „Die Erzieherin nimmt sich Zeit für mich, sie nimmt mich wahr, weil ich wichtig bin, auch wenn ich etwas falsch gemacht habe.“ Das sind kleine Momente, die aber eine ganz große Wirkung entfalten können. Das zu vermitteln und glaubhaft zu machen und für die „kleinen, großen Momente“ zu sensibilisieren, fasziniert mich.

Redaktion: Frau Professorin Schumacher, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zum Redakteur

Michael Klitzsch ist freiberuflicher Journalist und schreibt unter anderem für Der Spiegel, DSW-Journal und das Online-Magazin schulmanagement.
Er schaut sich für Sie regelmäßig in der Bildungslandschaft um und gibt Einblicke in die Arbeit der aim.

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