Herausforderungen für einen langen Atem
Professorin Dr. Rosemarie Tracy begleitet die vielseitigen Maßnahmen der aim im Bereich Sprachförderung und -bildung seit vielen Jahren. Sie ist Seniorprofessorin für Anglistische Linguistik der Universität Mannheim und Mitbegründerin des Mannheimer Zentrums für Empirische Mehrsprachigkeitsforschung (mazem). In ihrem Beitrag erfahren Sie von der Trägerin des Wilhelm von Humboldt-Lebenswerkpreis 2022 selbst, warum Sprachförderung kein „Projekt“ ist und wie sie erfolgreich stattfinden kann.
Wer Glück hat, erreicht ein hohes Alter und kann ein Leben lang ein bemerkenswertes menschliches Talent einsetzen: die Fähigkeit, Sprachen zu lernen. Das hätte laut neuro- und psycholinguistischer Forschung zugleich den Charme der Chance, das eigene Gehirn dank Mehrsprachigkeit möglichst lange fit zu halten (Bialystok et al. 2004). Allerdings: Wenn es darum geht, Kindern und Jugendlichen Zugang zu den Ressourcen zu verschaffen, um ihnen lebenslanges Lernen jeglicher Art und möglichst gute Bildungs- und Entwicklungschancen zu bieten, dürfen wir uns nicht auf Glück, Zufall und individuelle Neigung verlassen. Gefragt sind kühles Kalkül (frühe Investition in Bildung erspart der Gesellschaft höhere Folgekosten des Nichtstuns!) und gut informiertes pädagogisches Handeln auf der Basis einschlägiger Forschung. Das bedeutet auch, dass es darum geht, Wissen über sprachliche Fähigkeiten und über die Bedingung ihrer Entfaltung möglichst breit in die pädagogische Praxis zu bringen.
Deutsch muss keine Fremdsprache sein!
Die aim begleitet den Erwerb der deutschen Sprache entlang der Bildungsbiografie mit speziellen Förderprogrammen.
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Zu den oft zitierten und zweifellos intuitiv ansprechenden Metaphern im Bildungsdiskurs gehört die Vorstellung von Sprache als Schlüssel, das heißt als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, Integration und Bildungsgerechtigkeit. Aber wie steht es mit der Antwort auf die Frage: Was sind denn eigentlich die Voraussetzungen, damit Sprachkenntnis ihre Schlüsselfunktion entwickeln kann? Der Mensch ist zwar kognitiv und emotional bestens dafür gerüstet, sich sprachliche Systeme anzueignen und seine kommunikative Begabung zu entfalten, aber dies funktioniert nicht telepathisch. Damit sich ein komplexes Wissenssystem entwickeln kann, bedarf es komplexer Anreize. Um nur ein Beispiel zu nennen: Allein der aktive Wortspeicher erwachsener Menschen besteht aus 30.000 bis 50.000 Items, denen man in irgendeiner Weise begegnet sein muss. Dafür, dass sich Kinder und Jugendliche möglichst altersgemäße sprachliche Ressourcen aneignen können (gesprochen, geschrieben, umgangs- und bildungssprachlich), ist unsere Gesellschaft verantwortlich.
„Durch zahlreiche Kooperationen mit der Praxis und entsprechende Begleitforschung wissen wir, dass Sprachförderung kein „Projekt“ ist, sondern eine unverzichtbare Aufgabe und Voraussetzung dafür, dass andere Bildungsprojekte überhaupt sinnvoll durchgeführt werden können.“
Wir haben in den letzten fünf Jahrzehnten internationaler Forschung eine gute Vorstellung von der Komplexität der Erwerbsaufgaben (einsprachig und mehrsprachig) gewonnen. Dabei konnte eine Reihe von Missverständnissen über Mehrsprachigkeit aufgeklärt werden, obwohl es weiterhin nötig ist, gegen hartnäckige Ideologien und unproduktive Maßnahmen anzugehen. Dazu gehören auch heute noch Ratschläge wie die, zu Hause und im schulischen Kontext auf die Verwendung von Herkunftssprachen zu verzichten (vgl. auch die Kritik in Wiese et al. 2020). Durch zahlreiche Kooperationen mit der Praxis und entsprechende Begleitforschung wissen wir, dass Sprachförderung kein „Projekt“ ist, sondern eine unverzichtbare Aufgabe und Voraussetzung dafür, dass andere Bildungsprojekte überhaupt sinnvoll durchgeführt werden können. Sprachförderung ist eine Daueraufgabe und benötigt den Schulterschluss vieler Akteure über Bildungsinstitutionen hinweg und entlang der Bildungsbiografie (Gogolin et al. 2011). Nur so kann man sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche kontinuierlich unterstützt werden und überhaupt erst einmal in Kontakt mit den Ressourcen und vielfältigen Registern kommen, die sie sich aneignen sollen. All dies ist nicht zum Nulltarif zu haben. Es bedarf des Weitblicks und der entsprechenden finanziellen Unterstützung. Daher ist das Engagement der aim für die Weiterqualifizierung von Fachkräften, die Unterstützung von Übergängen zwischen Einrichtungen sowie für eine individuelle Förderung, die das Prädikat „individuell“ auch verdient, ein hohes Gut.
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