
Warum der Gender Gap wächst
Und wie wir Jugendlichen Orientierung geben können
Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer Welt auf, in der Geschlechterrollen zwischen Traditionalismus und Vielfalt neu verhandelt werden. In sozialen Medien verbreiten sich einfache Rollenbilder wie „Tradwives“ und „Alpha Males“ ebenso rasant wie progressive Identitätskonzepte jenseits binärer Kategorien. Welche Auswirkungen haben Algorithmen, Influencerinnen und Influencer sowie gesellschaftliche Entwicklungen auf das Rollenverständnis junger Menschen? Und warum sind gerade Bildungseinrichtungen gefordert, um dem wachsenden Gender Gap entgegenzuwirken? Darüber haben wir mit Diversitätsexpertin und Biko-Referentin Johannah Illgner gesprochen.
Johannah, dein Impulsvortrag auf der Biko 2025 trug den Titel „Geschlechterrollen, Gender Gap und die Gen Z“. Warum ist es aus deiner Sicht wichtig, sich mit Geschlechterrollen auseinanderzusetzen?
Das Thema Identität, Geschlechtsidentität und die damit zusammenhängenden Rollenbilder und Stereotype spielen für Heranwachsende eine große Rolle. Gerade in der Pubertät prallen hier die unterschiedlichsten Einflüsse auf die Jugendlichen ein.
Was sind deiner Beobachtung nach die prägendsten Einflüsse auf das Rollenverständnis junger Menschen heute?
Neben dem eigenen Umfeld prägen Serien, Filme, Bücher und Games die Vorstellungen von Geschlecht bei jungen Menschen. Besonders prägend für die Gen Z – alle, die zwischen 1995 und 2010 geboren wurden –, sind die sozialen Medien. Bilder, Videos und Beiträge von TikTok, Instagram und Co. spielen bei der Identitätsbildung eine wichtige Rolle und müssen deshalb unbedingt mitbetrachtet und mitgedacht werden.
Wie wirken Influencerinnen und Influencer und Algorithmen auf junge Menschen ein?
Das Mediennutzungsverhalten hat sich durch spezielle Funktionsweisen der Kanäle stark verändert. Auf TikTok werden die Userinnen und User mit kurzen Clips – oft unter 10 Sekunden – in extrem hoher Taktung konfrontiert. Auch auf Instagram können Stories und Videos nahezu in Dauerschleife geschaut und konsumiert werden. Hinzu kommt, dass auf diesen Kanälen durch Algorithmen sehr schnell Bubbles, d.h. Filterblasen, entstehen: Wenn Jugendliche anfangen, Videos mit frauenfeindlichen Inhalten anzusehen, werden ihnen solche auch vermehrt ausgespielt. Außerdem befeuern die Algorithmen kurze, stark polarisierende Clips – hier besteht die Gefahr, dass sich Userinnen und User nicht weiter informieren und dann nur meinungsstarke Ausschnitte anschauen.
Influencerinnen und Influencer nehmen in diesem System eine besondere Position ein: Sie vertreten oft Extrempositionen und polarisieren stark durch ihre Haltungen und Inhalte, die oft harmlos verpackt daherkommen. Diese Chiffren zu entschlüsseln und kritisch einzuordnen, fällt nicht nur Jugendlichen schwer.
Begriffe und Konzepte wie „Tradwives“ oder „Alpha Males“ kursieren häufig in sozialen Medien. Warum springen so viele Jugendliche darauf an?
Die Geschlechterrollen, die Influencerinnen und Influencer der Tradwife- oder auch der Alpha Male-Bewegung propagieren, wirken auf den ersten Blick simpel und sind deswegen vermutlich für viele Menschen attraktiv. Bei den Frauen heißt es: „zurück an den Herd“, in die „natürliche Rolle“ als Hausfrau und Mutter, dem Mann einen schönen Feierabend bereiten. Dazu passt natürlich der Alpha Male-Gedanke: Männer sind die starken Beschützer von Frau und Familie, verdienen das Geld und werden liebevoll von ihren Frauen ver- und umsorgt.
Solche klaren Rollenzuweisungen können gerade jungen Menschen ansprechen, die sich noch orientieren und dabei sehr vielen verschiedenen und komplexen Einflüssen ausgesetzt sind. Die vermeintlich einfachen Regeln geben ihnen ein Gefühl von Klarheit und Sicherheit – und vielleicht sogar ein simples Rezept für ein gutes Leben.
Wie verändert sich das Verständnis von Geschlecht jenseits binärer Kategorien besonders in der Gen Z?
Neben klaren Rollenbildern wie denen von Hausfrau und Versorger gibt es heute unglaublich viele Möglichkeiten für Jugendliche, ihre Geschlechtsidentität zu entdecken und zu entwickeln. Gerade durch soziale Medien haben sich Konzepte von nicht-binären, trans oder auch agender Identitäten verbreitet und auch weiterentwickelt. Die Gen Z kennt also nicht nur die Kategorien Mann und Frau als Geschlechtsidentität, sie hat eine große Palette an Möglichkeiten, sich zu identifizieren.
Was bedeutet das eigentlich?
Begriffe rund um Geschlechtsidentität & Rollenbilder
Eine trans Person identifiziert sich nicht (oder nicht vollständig) mit dem Geschlecht, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde.
Nicht-binäre Menschen ordnen sich nicht (ausschließlich) den Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ zu. Ihre Identität liegt außerhalb oder zwischen diesen binären Geschlechtern.
Agender bedeutet, dass sich eine Person keinem Geschlecht zugehörig fühlt – sie erlebt sich als geschlechtsneutral oder geschlechtslos.
Cis ist die Bezeichnung für Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
Der Begriff bezeichnet Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern – zum Beispiel bei Einkommen, Teilhabe, Bildung oder gesellschaftlicher Repräsentanz.
Kurzform von traditional wife. Ein Online-Trend, bei dem Frauen sich öffentlich zu traditionellen Rollen als Hausfrau und Mutter bekennen – oft romantisiert und idealisiert. Kritik gibt es, weil damit oft antifeministische Narrative verknüpft sind.
Begriff aus der Populärkultur und Online-Männerwelten. Steht für den „dominanten Mann“ als Versorger, Anführer und Beschützer. Wird häufig in maskulistischen, frauenfeindlichen und konservativen Kontexten verwendet – oft in Abgrenzung zu vermeintlich „schwachen“ Männern.
Was braucht es, um dem Gender Gap wirkungsvoll zu begegnen?
Im Spannungsfeld zwischen alten Rollenbilder auf der Achse Versorger/Hausfrau und der großen Bandbreite nicht-binärer Identitäten zeigt sich bereits ein Gap, eine gesellschaftliche Kluft: Es gibt eine Seite, die sich „traditionell“ und konservativ orientieren möchte, und eine andere Seite, die sich progressiv und liberal ausrichtet.
Genau dieses Spannungsfeld lässt sich noch an einer weiteren Stelle bei der Gen Z beobachten: Eine Studie der Financial Times aus dem Jahr 2024 hat eine zunehmende Spaltung zwischen jungen Frauen und Männern im Alter von 18-29 Jahren festgestellt und sogar eine gespaltene Generation attestiert.
Die Studie hat den Unterschied oder Gap zwischen liberalen und konservativen Weltanschauungen gemessen, mit erschreckenden Ergebnissen. Denn die Weltanschauung junger Männer und junger Frauen driftet (weltweit) immer weiter auseinander.
In Deutschland klafft eine Lücke von 30 Prozentpunkten zwischen zunehmend konservativen jungen Männern und progressiven weiblichen Personen im gleichen Alter.
Auch in der Vergangenheit hat es hier Unterschiede gegeben, aber innerhalb der letzten sechs Jahre ist dieser Gap enorm gewachsen.
Wie können Schulen und außerschulische Bildungsangebote Jugendliche im Umgang mit Geschlechterrollen stärken und sensibilisieren?
Meine Tipps für Schulen, Bildungseinrichtungen, aber auch Eltern lauten:
Ignorieren hilft nicht: Gender-Themen nicht vermeiden, sondern offensiv angehen.
Klare Haltung: Deutliches Einstehen für demokratische Grundwerte, gegen Sexismus und Geschlechterstereotype.
Wissen vermitteln: Seid selbst informiert, damit ihr gut aufklären und Kinder und Jugendliche bilden könnt.
Kinder und Jugendliche stärken: Selbstbild(er) klären und Selbstbewusstseinsbildung unterstützen.
Abbau von Vorurteilen: Andere bzw. alternative Vorbilder thematisieren und den Jugendlichen näherbringen.
Sucht euch Unterstützung: Es gibt tolle Ressourcen zu altersgerechten Konzepten, Tool Boxen und Unterrichtsmaterialien.
Zur Person
Johannah Illgner ist Expertin für vielfaltsbewusste Kommunikation, politische Beraterin mit der Agentur Plan W und betreibt den Community Space CoWomen Heidelberg. Auf der aim Biko 2025 teilte sie ihre Expertise mit dem Impulsvortrag “Geschlechterrollen, Gender Gap und die Gen Z”.
Weitere Informationen unter www.aim-biko.de.