Sprachförderung statt Sprachverbote

Warum das wichtig ist

Sprachverbote an Schulen sind mehr als eine pädagogische Maßnahme – sie prägen die Schulkultur und beeinflussen die Bildungschancen vieler Kinder. Ali Dönmez, Experte für Mehrsprachigkeit und Sprachbildung, erklärt im Interview, warum solche Regelungen problematisch sind und welche Konsequenzen sie für Schüler/-innen haben.

Herr Dönmez, Sie beschäftigen sich intensiv mit Sprachverboten an Schulen – speziell mit der Einschränkung von Mehrsprachigkeit im Schulalltag – und den Probleme, die sie mit sich bringen. Können Sie diese näher erläutern?

Wenn wir über Sprachverbote sprechen, ist zunächst wichtig zu klären, worum es genau geht. Wenn gesagt wird, an der Schule solle Deutsch gesprochen werden, klingt das zunächst wie eine Selbstverständlichkeit und kein aktives Verbot. Tatsächlich ist es aber ein Sprachgebot, das zur Folge hat, dass bestimmte Sprachen aus dem schulischen Raum ausgeschlossen werden. Ob eine Sprache explizit verboten oder eine andere zur einzigen Norm erhoben wird, macht keinen Unterschied – die Wirkung bleibt dieselbe: Bestimmte Sprachen werden aus der Schule gedrängt. Es zeigt sich hier auch eine Doppelmoral. Während Englisch als integraler Bestandteil des Bildungssystems gefördert wird und als erwünschte Mehrsprachigkeit gilt, werden Sprachen wie Arabisch, Rumänisch, oder Türkisch oft ausgegrenzt. Dabei gibt es für jede dieser Sprachen gute Argumente, sie zu fördern. Arabisch ist beispielsweise eine Weltsprache mit Hunderten Millionen Sprecher/-innen. Die Frage ist nicht, ob Mehrsprachigkeit gewünscht ist – sie ist es –, sondern welche Mehrsprachigkeit akzeptiert wird. Wenn Schulen sagen, sie wollen keine andere Sprache als Deutsch im Unterricht hören, dann geht es um soziale Hierarchien und Machtverhältnisse. Dieser Mechanismus wird als Linguizismus bezeichnet – eine Form von Rassismus, bei der Sprache als Mittel genutzt wird, um Gruppen zu hierarchisieren. Und das hat tiefgreifende Auswirkungen auf Schule und Gesellschaft.

 

Wie wirken sich die Sprachverbote aus?

Es entsteht ein Gefühl der Abwertung der eigenen Erstsprache, was sich auf die Identitätsentwicklung und das Selbstwertgefühl auswirken kann. Rassismus führt dazu, dass bei Betroffenen etwas zerbrechen kann. Der Soziologe Erving Goffman bezeichnet das als “broken identity”. Ihnen wird vermittelt, dass ihre Sprache, und damit ein Teil ihrer Identität, in der Schule unerwünscht ist. Das wiederum führt dazu, dass sie Strategien entwickeln müssen, um mit dieser Entwertung umzugehen.

Info

Sprachverbote an Schulen in Deutschland beziehen sich auf Regelungen, die Schülerinnen und Schülern untersagen, im Schulalltag andere Sprachen als Deutsch zu sprechen. Sie sind nicht bundesweit einheitlich geregelt, sondern werden von einzelnen Schulen oder Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. Während einige Schulen klare Verbote in ihrer Schulordnung verankern, setzen andere Lehrkräfte informelle Regelungen durch, etwa durch Ermahnungen oder Sanktionen im Schulalltag. Besonders häufig sind solche Verbote an Schulen mit einem hohen Anteil mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler zu finden. Eine genaue statistische Erfassung fehlt, jedoch zeigen Studien und Berichte, dass Sprachverbote in vielen Bundesländern existieren und in der Bildungsdebatte immer wieder kontrovers diskutiert werden.

Welche Strategien zeigen die mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler?

Einige Jugendliche reagieren mit Widerstand. Sie nehmen das Verbot als Provokation und gehen bewusst in die Konfrontation. Nach dem Motto: „Ihr wollt den Ausländer? Dann kriegt ihr den Ausländer!“ Andere wiederum resignieren und ziehen sich zurück. Sie nehmen die Diskriminierung hin, senken den Kopf und versuchen, sich durch ein System zu navigieren, das sie von vornherein benachteiligt. Manche übernehmen sogar die Rolle der Erfüllungsgehilfen und verstärken die Diskriminierung gegenüber anderen, um sich selbst in eine bessere Position zu bringen.

Können Sie das anhand eines Beispiels erläutern?

In einem Wiener Schulblog beschreibt eine Lehrkraft eine Szene mit einem Schüler namens „Berdan“, der Name wurde geändert. Er hört zwei Mädchen in einer anderen Sprache als Deutsch lachen und miteinander reden. Sofort fordert er sie auf: „Deutsch reden!“ Dann schaut er erwartungsvoll zur Lehrperson – als ob er Lob für sein Verhalten erwartet. Die Lehrkraft stellt ihn später zur Rede, und Berdan nennt es eine „Respektlosigkeit“, wenn die Mädchen in der Schule in ihrer Muttersprache reden. Das Paradoxe? Berdan hat selbst die gleiche Erstsprache wie die Mädchen. Dieses Verhalten ist ein Beispiel für internalisierten Rassismus. Betroffene übernehmen diskriminierende Strukturen. Rassismus hierarchisiert Gesellschaft. Wenn ich mich an der Umsetzung rassistischer Praktiken beteilige, werde ich mit einer höheren sozialen Stellung innerhalb des rassistischen Systems belohnt.

Reichen die Konsequenzen solcher Sprachgebote auch bis ins Elternhaus?

Ja, sie haben auch Auswirkungen auf Eltern. Lehrkräfte berichten mir von Eltern, die aktiv darum bitten, dass ihr Kind kein Türkisch in der Schule sprechen soll oder nicht neben einem anderen Kind mit der gleichen Erstsprache sitzt. Eine Mutter erzählte mir sogar in einem Interview, dass sie ihren Sohn bewusst in einen Kindergarten weiter weg brachte, weil dort, Zitat, „weniger Türken“ seien. Das zeigt, dass es hier um weit mehr als nur Sprache geht. Sprachverbote sind ein Symptom eines viel größeren Problems – es geht um Bildungsgerechtigkeit. In einem System, das Deutsch als einzig legitime Sprache fördert und bestimmte Sprachen aus dem Bildungsbereich verdrängt, wird eine bestimmte Bevölkerungsgruppe privilegiert. Für Kinder aus mehrsprachigen Familien bedeutet das: Ihre Identität wird herabgestuft, ihre Sprachen sind nicht erwünscht – und Bildungschancen hängen davon ab, inwieweit sie sich anpassen.

Letztendlich ist die entscheidende Frage nicht, welche Sprache in der Schule gesprochen werden soll, sondern: Wer darf in welcher Sprache Zugang zu Bildung haben – und wer nicht?

Ein Argument von Befürwortern von Sprachverboten ist, dass sie die Integration fördern. Die Vorstellung dahinter ist, dass eine gemeinsame Sprache ein Gemeinschaftsgefühl schafft. Wie stehen Sie zu dieser Annahme?

Wenn Sprache allein ausreichen würde, um ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, dann bräuchten wir weder Teambuilding-Events noch Mediationsprogramme. Ich lade Menschen immer dazu ein, sich das deutsche oder österreichische Parlament anzusehen: Alle sprechen dort Deutsch – aber wie viel Gemeinschaftsgefühl entsteht dadurch? Wer mit Kindern arbeitet, weiß, dass Sprache nicht die zentrale Bedingung für soziale Bindungen ist. Im Elementarbereich können Kinder stundenlang miteinander spielen, ohne eine gemeinsame Sprache zu haben. Gleichzeitig verbindet eine gemeinsame Sprache nicht automatisch: Zwei Kinder, die sich unsympathisch sind, werden sich nicht plötzlich mögen, nur weil sie dieselbe Sprache sprechen. Der Fokus auf Sprache lenkt ab von dem, was wirklich entscheidend ist: gegenseitiges Verständnis. Deshalb verwende ich selbst den Begriff „Integration“ nicht. Wir verwenden für Erwachsene, die später in das Land kamen und hier Fuß fassen möchten, den gleichen Begriff wie für Kinder, die hier auf die Welt kommen. „Integration“ suggeriert, dass aus Kindern zuerst etwas gemacht werden muss, bevor sie Teil der Gesellschaft sein können. Als würden sie kaputt auf die Welt kommen und man müsse sie reparieren. In Deutschland wird beispielsweise ein Kind mit dem Nachnamen Müller nicht als integrationsbedürftig betrachtet, ein Kind mit dem Nachnamen Yılmaz hingegen schon – selbst wenn beide hier geboren wurden. Warum? Weil Integration in der Praxis oft nichts anderes bedeutet als Unterordnung unter eine vorgegebene Norm. Tatsächlich geht es bei der Debatte um Sprachverbote nicht um Gemeinschaft oder Chancengleichheit, sondern um eine territoriale Abgrenzung: „Hier wird Deutsch gesprochen“. Es ist dieselbe Logik wie in Parolen wie „In Deutschland spricht man Deutsch“. Abgesehen davon, dass das faktisch falsch ist – denn in Deutschland werden dutzende Sprachen gesprochen – wird damit eine klare Grenze gezogen, wer dazugehört und wer nicht.

Ein weiteres Argument, dass für Sprachgebote auf dem Schulhof oftmals angeführt wird, ist, dass sie notwendig sind, um Konflikte zu verhindern. Lehrkräfte sagen: „Ich muss doch verstehen, worüber die Kinder sprechen.“ Was entgegnen Sie dem?

Ich frage mich immer: Gilt dieses Kontrollbedürfnis auch für Kinder mit Deutsch als Erstsprache? Wenn sie sich in einer Ecke unterhalten, verlangt dann jemand, dass sie lauter sprechen, damit alle sie verstehen? Oder ist dieses Bedürfnis nach Kontrolle selektiv? Wenn es wirklich um vollständige Überwachung ginge, müssten alle Kinder mit Mikrofonen ausgestattet werden, damit Lehrkräfte jederzeit mithören können. Das ist natürlich absurd. Tatsächlich geht es also nicht um Kontrolle an sich, sondern um die Kontrolle bestimmter Gruppen. Mehrsprachige Kinder werden in ihrem Sprechen anders reguliert als monolingual deutschsprachige Kinder. Das ist ein typisches Muster rassistischer Sozialisation: Das Verhalten einer Gruppe wird problematisiert, während dasselbe Verhalten bei einer anderen Gruppe unkommentiert bleibt. Kurz gesagt: Sprachverbote verhindern keine Konflikte – sie schaffen neue.

Von Forschungsseite ist immer wieder betont worden, dass Mehrsprachigkeit im Bildungssystem zu wenig genutzt und wertgeschätzt wird. Welche Chancen und Ressourcen gehen verloren, wenn Mehrsprachigkeit nicht gefördert oder sogar eingeschränkt wird?

Ich vermeide es mittlerweile bewusst, Mehrsprachigkeit als „Ressource“ zu bezeichnen, denn historisch gesehen wurden Ressourcen stets von der herrschenden Klasse ausgebeutet. Die entscheidende Frage ist: Wer entscheidet, wann Mehrsprachigkeit als Ressource gilt – und für wen? Ein Beispiel: Eine Schülerin durfte in der Volksschule kein Albanisch sprechen. Jahre später wurde sie plötzlich aufgefordert, für einen neu zugewanderten Schüler zu übersetzen. Plötzlich war Albanisch eine Ressource – aber nicht für die Schülerin selbst, sondern für die diskriminierende Lehrperson. Das zeigt: Mehrsprachigkeit wird oft nur dann anerkannt, wenn sie Personen in Machtpositionen dienlich ist. Dabei ist es didaktisch natürlich absolut sinnvoll, Mehrsprachigkeit im Unterricht einzusetzen. Kinder sollten nicht nur in Deutsch und Englisch gefördert werden, sondern auch in ihren Erstsprachen alphabetisiert werden. Dass viele Kinder in einer Sprache, die sie sprechen, nicht lesen und schreiben lernen, ist ein riesiger Verlust.

Was würden Sie Lehrkräften und Schulleitungen mitgeben, die möglicherweise unsicher im Umgang mit Mehrsprachigkeit sind?

Der wichtigste Schritt ist Persönlichkeitsbildung. Viele Lehrkräfte können nicht über problematische Themen wie Rassismus sprechen, weil sie eine angelernte, empörte Abwehrhaltung einnehmen. Das ist deswegen, weil wir nie gelernt haben, über Rassismus zu sprechen – wir denken oft nur an extreme Formen, aber nicht an die vielen Abstufungen im Alltag. Ein Beispiel: Wir wissen, dass physische Gewalt viele Formen hat – von einem Schubser bis hin zu schwerer körperlicher Gewalt. Aber bei Rassismus fehlt uns oft dieses Verständnis für Abstufungen. Wenn ich eine Aussage als problematisch kritisiere, höre ich oft: „Aber ich bin doch kein Rassist!“ – obwohl es gar nicht darum ging, eine Person zu verurteilen, sondern eine Handlung zu reflektieren. Der zweite Punkt: Weniger über Intentionen reden, mehr über die Wirkung. Viele Sprachverbote sind gut gemeint – etwa mit der Absicht, ein Gemeinschaftsgefühl zu fördern oder Missverständnisse zu vermeiden. Aber die Wirkung bleibt dieselbe: Eine Sprache wird aus dem Schulleben ausgeschlossen. Die Konsequenz ist, dass ein Kind sich nicht in all seinen Sprachen ausdrücken darf. Ich erinnere mich an einen Jugendlichen, der nach einem Workshop sagte: „Wenn ich das alles höre, kann ich nichts machen.“ Besonders interessant war, dass dieser Junge Deutsch als Erstsprache hatte. Das zeigt: Sprachverbote betreffen nicht nur mehrsprachige Schülerinnen und Schüler – sie beeinflussen die gesamte Schulkultur.

Was würden Sie sich in der Diskussion um Sprachverbote wünschen?

Wir müssen diese Diskussion unter dem Aspekt der Kinderrechte führen. Die UN-Kinderrechtskonvention fordert Vertragsstaaten auf, dem Kind Achtung vor seiner Sprache zu vermitteln.. Doch in der Debatte über Sprachverbote sitzen die Betroffenen – die Kinder – nie mit am Tisch. Entscheidungen werden buchstäblich über ihre Köpfe hinweg getroffen. Zudem müssen Schulen sich dazu verpflichten, lernbereit zu sein. Lehrkräfte sind Expert:innen für Didaktik und Unterricht – aber nicht in allen Bereichen. Offenheit für Weiterbildung und die Bereitschaft, sich mit Rassismus und Mehrsprachigkeit auseinanderzusetzen, wären enorm wertvoll für die Bildungskultur.

Das Interview führte Michael Klitzsch. Der freiberufliche Journalist schreibt unter anderem für Der Spiegel und für unser Online-Magazin schulmanagement.


Ali Dönmez auf der aim Biko 2025

Mehrsprachigkeit ist eine gesellschaftliche Realität. In seinem Impulsvortrag „In der Schule wird Deutsch gesprochen!“ geht Ali Dönmez der Frage nach, wie Lehkräfte mit der Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen. Der Vortrag thematisiert Mehrsprachigkeit aus einer rassismuskritischen Perspektive und setzt sich mit Sprachverboten und Sprachgeboten sowie mit Rassismuserfahrungen von Schüler/-innen auseinander.

Ali Dönmez ist Logopäde sowie Lehrer für Deutsch als Zweitsprache. Er engagiert sich intensiv in der Fortbildung von Pädagog/-innen und anderen Fachkräften zu Themen wie Mehrsprachigkeit, Sprachentwicklungsstörungen und einem diversitätssensiblen sowie rassismuskritischen Umgang mit Sprache. In seinen Seminaren und Workshops, beispielsweise "In der Schule wird Deutsch gesprochen!", setzt er sich mit Sprachgeboten und -verboten auseinander und beleuchtet die damit verbundenen Machtverhältnisse in Bildungseinrichtungen. Zudem ist er Initiator der Petition #LasstKinderGemeinsamLernen, die sich für die Abschaffung von Deutschförderklassen einsetzt.

Mehr unter www.aim-biko.de

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