
KI als Werkzeug, nicht als Ziel
KI-Kenner Julian van Dieken über seinen Auftritt bei der Biko 2025 – und das, was die Schule der Zukunft wirklich braucht
Wie können Schulen sinnvoll mit der sich rasant entwickelnden Künstlichen Intelligenz umgehen, ohne sich davon überfordern zu lassen? Julian van Dieken, KI-Profi und -Künstler, hielt die finale Keynote auf der aim Biko 2025. Im Interview plädiert er für einen spielerischen Ansatz im Umgang mit digitalen Tools, für Lernfreude als pädagogischen Kompass – und für eine Schule mit passionierten Lehrkräften, die genug Freiraum zum Experimentieren haben.
Herr van Dieken, Sie haben bei der Biko die abschließende Keynote gehalten. Was war Ihr Eindruck von der Konferenz?
Grundsätzlich schätze ich es sehr, dass all diese Bildungsthemen überhaupt so ein großes Podium bekommen – das ist nicht selbstverständlich. Gerade, weil dabei auch Geld eine Rolle spielt. Es ist etwas anderes, ob du dich in einer Fachrunde von Kita-Leuten austauschst oder ob das Ganze so groß aufgezogen wird wie bei der aim Biko. Ralph Caspers auf der Bühne, renommierte Experten – es gibt einen Kamerakran und so weiter. Das hat eine gewisse Symbolwirkung, weil der Bildungsbereich oft schwächer wahrgenommen wird als andere Branchen. Ein Freund und Kollege von mir war ebenfalls vor Ort, und er meinte: Es ist einfach wahnsinnig ermutigend und inspirierend, wenn viele Leute gleichzeitig an einem Ort sind, sich austauschen können und merken Ich bin nicht allein. Gerade, weil das Schulsystem oft langsam und starr ist, ist dieser Austausch extrem wertvoll.
Ihr Vortrag über KI stieß auf viel positives Feedback. Viele haben ihre Handys gezückt und die Folien mit den praktischen Tipps fotografiert. Ich habe nachher mit jungen Lehrerinnen gesprochen, die sehr inspiriert waren.
Das ist natürlich genau das Ziel. Egal ob Digitalisierung, E-Learning oder jetzt KI – wir neigen dazu, diese Themen zu überhöhen. Ich finde, wir sollten sie nicht immer so verkrampft behandeln, oftmals dominieren bei uns Druck, Angst und Pflicht, wenn es um Digitalisierung und KI geht. Diese Haltung spiegelt sich dann etwa in der Debatte um Schweden wider und deren angeblichen “Rückzieher” bei der Digitalisierung. Aber das ist verkürzt – in Wahrheit hat Schweden bereits mehr als 80 Prozent digitalisiert. Wenn die jetzt einen Schritt zurückgehen, sind sie immer noch fünf Schritte vor uns. Es geht insgesamt bei dem Thema darum, zu informierten Entscheidungen zu kommen – und nicht solchen, die aus Angst getroffen werden.
Bei der rasanten technologischen Entwicklung kann einem aber durchaus ein bisschen mulmig werden. Was bedeuten die enormen Sprünge beim Thema KI für die Welt, in der unsere Kinder aufwachsen werden?
Wir wollen unsere Kinder auf eine Welt vorbereiten, die wir selbst gar nicht kennen. Wenn ein Kind, das heute 3 ist, mit 20 Jahren aus der Schule kommt, sprechen wir über das Jahr 2040. Was dann sein wird, wissen wir nicht. Wir kennen die Berufe nicht, in denen unsere Kinder dann arbeiten werden. Als ich in die Schule kam, gab es weder E-Learning-Kurse noch das Berufsfeld, in dem ich heute arbeite. Und die technologische Entwicklung beschleunigt sich exponentiell. Das sogenannte Moore’s Law – das beschreibt die Verdopplung der Rechenleistung alle zwei Jahre – ist in vielen Bereichen längst überholt. Im KI-Bereich sprechen wir heute teilweise von einer Verdopplung in sieben Monaten. Das bedeutet: In 14 Monaten vervierfacht sich die Rechenleistung. Und gleichzeitig unterrichten wir noch mit Methoden aus der Zeit des preußischen Schulmodells.
Was sollten wir Kindern für diese Welt von morgen in der Schule heute schon mitgeben?
Unser Ziel muss sein, Kinder nicht nur mit Wissen zu versorgen, sondern mit Haltung. Anpassungsfähigkeit, emotionale Zugänge, Experimentierfreude – das sind die entscheidenden Kompetenzen in einer technologisch rasant fortschreitenden Welt.
Die wichtigste Kernkompetenz ist dabei – und das wird durch KI noch deutlicher – die eigene Lernfreude zu erhalten. Das klingt erstmal banal, aber wenn man das ernst nimmt, muss man einiges radikal umbauen. Denn vieles in der Schule ist gerade nicht auf intrinsische Motivation ausgerichtet. Natürlich gehören auch Disziplin und Durchhaltevermögen zum Lernen, aber diese bauen auf der Lernfreude auf. Wenn das eine nicht da ist, funktioniert das andere auch nicht.
Brauchen wir dafür schon im Vorschulalter digitale Geräte, KI im Kindergarten? Ab wann sollten Kinder mit solchen Tools in Berührung kommen?
Die Frage, ab wann Kinder digitale Geräte nutzen sollten, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es macht einen großen Unterschied, ob ich einem Kind einen alten Gameboy mit Tetris in die Hand gebe, ein iPad mit Bildungsapps oder ein freigeschaltetes Smartphone mit allem Drum und Dran. Das sind völlig unterschiedliche Szenarien. Was für mich ausschlaggebend ist: Die Entscheidung muss informiert sein. Wer entscheidet, ob Kinder Zugang zu digitalen Tools bekommen, muss selbst verstehen, womit sie es zu tun haben – und auch begründen können, warum sie etwas tun oder lassen. Es geht nicht darum, alles zu verbieten oder alles sofort zuzulassen. Es geht um die Haltung: Was habe ich vor? Was ist das Ziel? Was ist die Lebensrealität der Kinder? Und was passt dazu als Werkzeug? Ich würde niemandem sofort ChatGPT geben, der noch nie selbst geschrieben hat. Aber ich würde auch nicht verteufeln, dass Kinder früh mit digitalen Hilfsmitteln in Kontakt kommen – wenn die KI sinnvoll in ein pädagogisches Konzept eingebettet ist. Ein gutes Beispiel dafür, wie es gehen könnte, ist die Reggio-Pädagogik, die viel Wert legt auf individuelle Entfaltung, Selbstverwirklichung, Wertschätzung und das Lernen in Projekten. Dabei wird sehr pragmatisch geschaut, welches Werkzeug zum Inhalt passt. Und wenn es sinnvoll ist, ein digitales Tool zu verwenden, wird es eingesetzt, immer ausgehend vom Projekt, vom Thema, vom pädagogischen Ziel – nicht vom Tool.
Sie haben in Ihrem Vortrag über Spielen, Experimentieren und Storytelling als drei Ihrer Meinung nach entscheidende Elemente in einer KI-Welt gesprochen. Warum sind sie so wichtig?
Das hängt mit der Geschwindigkeit der Entwicklungen zusammen. Und man wird immer wieder mit Tools konfrontiert, bei denen man nicht weiß: Ist das jetzt wichtig für mich? Muss ich das können? Wie funktioniert das überhaupt? Um mit diesen Herausforderungen sinnvoll umgehen zu können, braucht man einen experimentellen Zugang. Das heißt: ausprobieren, spielen, Fehler machen, verstehen, wo etwas passt – und wo nicht. Das gilt übrigens nicht nur für Lehrer:innen oder Schüler:innen – das gilt auch für mich als Mediendesigner. Ich weiß heute auch nicht, ob das neue 3D-Tool von gestern für mich morgen wichtig wird. Aber ich kann es ausprobieren. Das ist mein Modus: Ich lerne durch Spiel und Experiment. Storytelling kommt dann ins Spiel, wenn es darum geht, diese Erfahrungen weiterzugeben. Du musst erzählen können, was du herausgefunden hast – nicht nur technisch, sondern auch emotional. Was hat dich überrascht? Was hat dich begeistert? Was hat nicht funktioniert? Das ist die Basis für gemeinsames Lernen im Kollegium oder im Team.
Was raten Sie Lehrerinnen und Lehrern, die in ihrem Alltag ohnehin schon stark gefordert sind – und jetzt auch noch KI in den Unterricht integrieren sollen?
Zunächst einmal: Das müssen sie nicht als reinen Selbstzweck, weil es gerade ein Hype-Thema ist. Es gibt zwei Perspektiven auf KI. Die eine ist stark ökonomisch geprägt – KI als Effizienzsteigerungs-Tool. Diese Perspektive erzeugt Druck, Angst und Stress. Die andere Perspektive – meine – ist eher pädagogisch-humanistisch: KI als Möglichkeit, Lernprozesse neu zu denken, Kreativität zu fördern, Lernfreude zu stärken. Aber das braucht Zeit, Geld und Freiräume. Wenn eine Schulleitung wirklich will, dass ihr Team sich mit KI beschäftigt, dann muss sie auch Zeit dafür schaffen. Vielleicht einen Freitag im Monat freischaufeln, an dem das möglich ist, und zwar in der Arbeitszeit, nicht obendrauf. Mein konkreter Rat: Nimm dir ein einziges Tool, zum Beispiel ChatGPT, und spiel damit. Einen Monat lang, zehn Minuten am Tag. Nicht, um besser oder effizienter zu werden, sondern um herauszufinden, ob du damit einen eigenen Zugang findest.
Was würden Sie sich für die Schule der Zukunft wünschen?
Was ich mir wünsche, hat erstmal gar nichts mit KI zu tun: Ich wünsche mir Lehrkräfte mit Leidenschaft. Menschen, die für ihr Thema brennen – und die strukturelle Freiräume bekommen, genau das zu tun. Das ist die Grundlage, alles andere folgt daraus. Und natürlich wünsche ich mir gute Schulleitungen. Mutige Führungspersönlichkeiten, die bereit sind, sich auch mal angreifbar zu machen. Die nicht auf das System warten, sondern innerhalb des Systems mutige Entscheidungen treffen – und ihre Teams mitnehmen. Und ich wünsche mir Schulen mit guter Ausstattung, mit ordentlichen Räumen, mit hochwertigen Materialien. Nicht die Schulen mit kaputten Toiletten und den gleichen Stühlen wie vor 30 Jahren. Sondern Lernorte, die wirklich zeigen: Hier geht es um etwas Wichtiges. Wenn das da ist, dann kommt alles andere. Dann stellt sich auch die Frage nicht mehr, ob man KI nutzt, sondern nur noch wie, wann, wofür und in welchem Maß. Dann ist KI einfach ein Pfeil im Köcher – und den muss man schießen können, wenn es passt.
Das Interview führte Michael Klitzsch. Der freiberufliche Journalist arbeitet unter anderem für den Spiegel und schreibt für unser Online-Magazin schulmanagement.
Weitere Infos zur aim Bildungskonferenz unter www.aim-biko.de
Ein Podcast live von der Biko-Bühne: Julian van Dieken bei Baseline X Biko. Jetzt anhören!
Zur Person:
Julian van Dieken ist Fotograf, Mediendesigner und Referent. Er arbeitet an der Schnittstelle von Design, Kunst, Zukunftstechnologien und Bildung. Bekannt wurde er durch KI-generierte Kunstprojekte wie “Das Mädchen mit den leuchtenden Ohrringen”. Van Dieken arbeitet mit Bildungsinstitutionen, Kulturschaffenden und Unternehmen zusammen – und erklärt in Keynotes, Workshops und Coachings Digitalitätsthemen für alle Zielgruppen.