
Eine Sache der Balance
Wie zwischen vermeintlichen Gegensätzen im Kita-Alltag Lernräume entstehen
Gabriele Ostertag-Weller ist langjährige Kindergartenleiterin, Musikpädagogin und Dozentin für Musik und Rhythmik. Seit den Anfängen begleitet sie die aim als Referentin mit den Schwerpunkten Sprache, Musik und Bewegung. Sie engagiert sich für eine ganzheitliche frühkindliche Bildung. In ihrem Gastbeitrag lädt sie dazu ein, pädagogisches Handeln immer wieder neu auszubalancieren im Denken, Fühlen und Handeln mit Kindern.
In der frühen Bildung begegnen uns ganz unterschiedliche pädagogische Konzepte und Ansätze. Mit Veränderungen wie dem neuen Sprachförderkonzept „Sprachfit“ oder dem weiterentwickelten Orientierungsplan kommen neue Herausforderungen auf die Kindertageseinrichtungen in Baden-Württemberg zu. Für die Kitateams und pädagogischen Fachkräfte kann es in dieser Situation hilfreich sein, eine Balance im pädagogischen Handeln zu finden – eine, die den Kindern, ihren Familien und dem Team vor Ort gerecht wird.
Der wertschätzende Blick auf das individuelle Kind sowie eine tragende Bindung bilden dabei die Grundlage für das pädagogische Handeln. Wenn wir uns fragen, warum ein Kind so handelt, wie es handelt – uns also mit seinen „guten Gründen” auseinandersetzen –, und gleichzeitig auf unsere eigene pädagogische Intuition hören, kann das unser Handeln enorm bereichern. Das Prinzip „Erziehung und Bildung durch Musik, Sprache und Bewegung“ bietet dabei besondere Chancen: Es spricht Körper, Geist und Seele gleichermaßen an. Lernen wird zum Spiel.
Werfen wir also gemeinsam den Blick auf einige Themen, die dazu einladen, unser pädagogisches Handeln zu reflektieren – und bei Bedarf neu auszubalancieren.
Stärkeorientiert und potenzialorientiert
Mit den sichtbaren Stärken eines Kindes zu arbeiten, ist zweifellos sinnvoll. Denn auf den eigenen Ressourcen aufzubauen, stärkt das Kind. Gleichzeitig bilden die sichtbaren Stärken auch das häusliche Bildungsumfeld ab: Ein Kind aus einem bildungsnahen Elternhaus entwickelt andere Stärken als eines aus einem bildungsferneren Elternhaus.
Wenn wir ausschließlich mit dem arbeiten, was schon da ist, laufen wir Gefahr, ungleiche Bildungschancen zu verfestigen.
Potenzialorientiertes Arbeiten hingegen nimmt auch das in den Blick, was (noch) nicht sichtbar ist. Ziel ist es, Kinder ihre verborgenen Fähigkeiten und Ressourcen entdecken zu lassen. Dadurch kann ein Kind auch im emotionalen Bereich hinsichtlich Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit in besonderer Weise gefördert werden. So entsteht ein positives Selbstkonzept, das alle weiteren Bildungsprozesse positiv beeinflussen kann.
Ein Beispiel aus der Praxis
Am Ende des Projektes „Spinnen“ sind die Kinder der Projektgruppe eingeladen, ein Spinnennetz und eine Spinne zu malen. Der 4,5 Jahre alte Berkay ruft sofort: „Ich möchte nicht malen!“ Der Erzieher überlegt, was wohl die guten Gründe für seine Aussage sind. Vielleicht eine Verunsicherung und deshalb eine Vermeidungsstrategie? Er bietet Berkay an, ihn beim Malen zu unterstützen. Nach einem kurzen Anschub durch den Erzieher malt Berkay selbständig. Als sein Bild fertig ist, strahlt er. Sein „Seelenlachen“ wirkt von innen heraus. Neben einem großen Lob hört er die Botschaft: „Berkay, denke immer daran: Du kannst viel mehr, als du denkst.“
Themen, Interessen und die 360°-Bildung
Kinder bringen ihre Themen und Interessen mit, zum Teil ebenfalls abhängig vom Elternhaus. Darauf einzugehen ist sinnvoll, denn sie beinhalten eine intrinsische Motivation. Gleichzeitig ist wissenschaftlich belegt, wie bedeutsam Neugier für die kognitive Entwicklung ist: „nach Neuem gierig“ zu sein, ist eine starke Antriebskraft.
Deshalb stellt sich die Frage: Wie können wir diese „Gier nach Neuem” fördern, wenn Kinder bevorzugt in ihren eigenen Themen- und Interessensbereichen verweilen? Eventuell erweist es sich als sinnvoll, im Spiel neue Wege zu eröffnen – Wege, die ihnen Zugänge zu unterschiedlichen Bereichen unserer Welt ermöglichen. So entsteht eine Art 360°-Bildung, die unter anderem die Bereiche Musik, Theater, Bildende Kunst, Literatur, Naturwissenschaft, Mathematik, „Ich und Du“, Werte-Ethik-Religion, „Unsere Erde“, „Früher und Heute“ und vieles mehr umfasst.
Ein Beispiel aus der Praxis
Die pädagogische Fachkraft stößt auf ein Bilderbuch über den Künstler Matisse. Nach ihren Beobachtungen spielt das Thema „Kunst und Künstler“ im Alltag der Kinder bisher keine große Rolle. Trotzdem bietet sie das Bilderbuch „Monsieur Matisse und seine fliegende Schere“ als verbindliches Projekt für die 4- bis 6-jährigen Kinder an. Die Kinder zeigen sich offen und interessiert für den Künstler und seine Bilder. Sie erleben neue, eigene Ausdrucksmöglichkeiten, ihr Horizont der Kinder wird geöffnet, ihre Neugier geweckt.
Gesellschaftspolitische Themen kindgerecht aufgreifen
Neben der ganzheitlichen 360°-Bildung sind es auch gesellschaftspolitische Aspekte, die den pädagogischen Alltag beeinflussen. Einige davon stellen sich drängend ganz aktuell:
Wie kann spielerische und alltagsintegrierte Sprachförderung in der Kita gelingen?
Wie lässt sich ein spielerischer und fließender Übergang zur Grundschule vorbereiten?
Wie können Kinder im Spiel eine wertorientierte Haltung entwickeln?
Wie stärken wir ihr körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden nachhaltig?
Wie kann der weiterentwickelte Orientierungsplan verbindlich und gleichzeitig spielerisch umgesetzt werden?
Freiwilligkeit und Verbindlichkeit
Das Prinzip der Freiwilligkeit ist aus gutem Grund ein geschätztes Gut in der frühen Bildung. Es beinhaltet die intrinsische Motivation der Kinder als Grundlage für Selbstbildungsprozesse. Aber was ist mit jenen, die weniger inneren Antrieb mitbringen oder sich nicht so leicht selbst organisieren? Vielleicht braucht es zwischen Freiwilligkeit und Zwang eine pädagogische Mitte. Verlässliche Strukturen und ein gewisses Maß an Verbindlichkeit in der Kita können gerade diesen Kindern helfen, sich spielerisch selbst zu bilden und so ihre Potenziale zu entfalten. Ein Beispiel dafür ist das Sprachförderprogramm „Sprachfit“: Es setzt in Baden-Württemberg bewusst verbindliche Grenzsteine, ohne dabei das Kind aus dem Blick zu verlieren.
Ein Beispiel aus der Praxis
In der Kita Sonnenschein ist der Morgenkreis freiwillig. Von 50 Kindern nehmen regelmäßig nur 17 teil. Gleichzeitig haben die meisten Kinder Sprachförderbedarf. Was wäre, wenn der Morgenkreis verbindlicher gestaltet würde? Vielleicht könnte(n) dann ...
mehr Kinder über Lieder und Fingerspiele erste Sprachmodelle kennenlernen und im Alltag selbst wiederholen,
mehr Kinder mehr gemeinsame Freude erleben, Sozialverhalten stärken und motivierende gruppendynamische Prozesse, die in Gang kommen, erfahren,
über Sprachbarrieren hinweg das gemeinsame Spiel im Freispiel gefördert werden,
Merkfähigkeit, Konzentration und Wahrnehmung über ein reiches Repertoire an Liedern und Fingerspielen gestärkt werden.
Wichtig bleibt dabei: Morgenkreise müssen lustvoll, spielerisch, partizipativ und vor allem bewegt gestaltet sein. Sonst verlieren sie ihren Wert.
Kleingruppe – Großgruppe: beides zählt
Die individuelle Zuwendung in der Kleingruppe bzw. Einzelförderung ist ein Schatz in der pädagogischen Arbeit. Gleichzeitig birgt auch das Lernen in der Großgruppe (bis ca. 24 Kinder) Chancen für intrinsische Bildungsprozesse. Leider wird diese Art des gemeinsamen Erlebens manchmal vorschnell abgewertet und negativ interpretiert, etwa mit dem Satz „Alle müssen das Gleiche machen.“
Doch das stimmt so nicht. Wenn Kinder im Rahmen der Großgruppenarbeit durch Aktivität, Bewegung, Spiel und Partizipation in „Spannung“ gehalten werden, kann sie viel bewirken:
gruppendynamische Prozesse werden zum Motor für Lernprozesse,
gemeinsame und vertiefende Spielformen im Freispiel werden angeregt,
Kinder lernen verstärkt voneinander und miteinander Lernen („Peer Learning“),
ältere Kinder übernehmen Vorbildfunktionen.
Je mehr Kinder sich mit einem Thema oder einem Projekt beschäftigen, desto stärker kann es im Kita-Alltag Wurzeln schlagen – und desto dynamischer können Lernprozesse werden.
Resümee
Für Pädagogische Fachkräfte und Kitateams ist es hilfreich und wertvoll, das eigene pädagogische Handeln regelmäßig zu reflektieren. Es gilt: Was gut ist und trägt, darf bleiben. Was irritiert, verdient Beachtung. Und was nicht mehr passt, braucht manchmal den Mut zur Veränderung. Eine Sache der Balance.
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