Bedürfnisorientierung im Alltag

8 Prinzipien für Eltern und Fachkräfte von Barbara Weber-Eisenmann

Wie können wir Kinder achtsam begleiten, ohne sie zu bewerten oder zu überfordern? Bedürfnisorientierung ist mehr als ein pädagogisches Konzept – sie ist eine Haltung. In diesem Beitrag erläutert unsere Gastautorin Barbara Weber-Eisenmann, wie Eltern und Fachkräfte mit acht alltagstauglichen Prinzipien eine tragfähige, respektvolle Beziehung zu Kindern gestalten können.

Barbara Weber-Eisenmann ist Kita-Leitung, Autorin und Mutter einer Tochter im Kindergartenalter. Für unsere aim-Blicke schreibt sie als aim-Botschafterin regelmäßig zu Themen der frühkindlichen Bildung. Ihr Fokus liegt dabei auf der bedürfnisorientierten Pädagogik.

Auf Instagram teilt sie als @frau_zauberschoen Einblicke in ihre Arbeit.

Bedürfnisorientierung ist eine Haltung und ein Menschenbild. Die Frage ist ganz einfach: Wie möchte ich – völlig unabhängig vom Alter – mit Menschen umgehen, und wie wünsche ich mir, dass mit mir selbst umgegangen wird?  Die Antwort ist vermutlich genauso einfach: mit Respekt und Wertschätzung. Wir alle wollen gesehen und gehört werden, respektiert und mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen ernst genommen werden. Und genau das gilt auch für Kinder.  

Bedürfnisorientierung ist also auch eine Einladung: Kinder zu begleiten, statt zu erziehen, sie ernst zu nehmen, statt zu bewerten. Die verlässliche und sichere Bindung zwischen Kind und Erwachsenem bildet dabei die Basis. Es geht darum, mit dem Kind in Beziehung zu treten – auf Augenhöhe, mit Empathie und dem tiefen Wunsch, das Kind in seiner Ganzheit zu verstehen. 

Die theoretischen Grundlagen: Woran orientieren wir uns? 

Bedürfnisorientierte Pädagogik fußt auf verschiedenen theoretischen Ansätzen – allen voran der Bindungstheorie (John Bowlby, Mary Ainsworth), der Humanistischen Psychologie (Carl Rogers), den Grundbedürfnissen nach Deci & Ryan (Autonomie, Kompetenz, soziale Eingebundenheit) und der gewaltfreien Kommunikation (Marshall Rosenberg).

Aus diesen Konzepten ergeben sich klare, zentrale Grundsätze: 

  • Kinder sind vollwertige Menschen – von Anfang an. Sie verdienen Respekt und echtes Interesse. 

  • Beziehung geht vor Erziehung. Eine stabile Beziehung ist die Basis für Entwicklung. 

  • Verhalten ist Kommunikation. Kinder zeigen mit ihrem Verhalten, was sie brauchen. Sie verhalten sich also auch nicht „schlecht“, wenn sie zum Beispiel wütend sind oder einen Gefühlsausbruch haben, sondern äußern so ihre Bedürfnisse.  

  • Empathie ist der Schlüssel. Wer fühlen kann, was das Kind fühlt, kann angemessen reagieren. 

  • Selbstfürsorge gehört dazu. Bedürfnisorientierung bedeutet nicht Selbstaufgabe – weder für Fachkräfte noch für Eltern. 

Was sind eigentlich Bedürfnisse? 

Bedürfnisse sind universelle Grundlagen menschlichen Lebens. Sie entstehen aus dem, was unser Körper und unsere Psyche brauchen, um sich sicher, verbunden und gesehen zu fühlen. Dazu gehören physische Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schlaf und Bewegung ebenso wie emotionale Bedürfnisse nach Bindung, Autonomie, Kompetenz und Sinn. 

Bedürfnisse zeigen sich oft indirekt. Ein Kind, das scheinbar „trotzt“, könnte in Wahrheit Sicherheit oder Zugehörigkeit brauchen. Ein stilles Kind, das sich zurückzieht, braucht vielleicht Schutz oder eine Möglichkeit zur Selbstregulation. Die Kunst liegt darin, diese Signale zu lesen. Je mehr man mit einem Kind in Beziehung ist, desto eher gelingt das auch.  

Bedürfnis oder Wunsch – was ist der Unterschied? 

Ein häufiges Missverständnis ist die Gleichsetzung von Bedürfnis und Wunsch. Ein Wunsch ist die konkrete Strategie, mit der ein Bedürfnis erfüllt werden könnte.  

Zum Beispiel: Ein Kind wünscht sich ein Eis. Dahinter kann das Bedürfnis nach Genuss, Trost oder Zugehörigkeit stehen.  

Es geht darum, den Wunsch ernst zu nehmen – aber nicht immer automatisch und blind zu erfüllen. Statt zu sagen „Nein, gibt’s nicht!“, könnten wir fragen: „Was brauchst du gerade wirklich?“  

Natürlich ist es völlig in Ordnung, einfach auch das Eis zu kaufen. Aber das dritte Eis ist kein Bedürfnis mehr, sondern definitiv ein Wunsch.  

Bedürfnisorientierung bedeutet also nicht, dass Kinder alles bekommen, was sie wollen. Es bedeutet, hinter das Verhalten zu blicken, um es zu verstehen, und gemeinsam nach Wegen suchen, Bedürfnisse innerhalb klarer und sicherer Rahmen zu erfüllen. Manchmal sagen wir dann auch Nein – aber in Verbindung und mit Erklärung. Das unterscheidet Bedürfnisorientierung von bloßer Verwöhnung. 

Wie gelingt Bedürfnisorientierung im Alltag?

Hier einige alltagstaugliche Prinzipien für Eltern und Fachkräfte: 

1. Beobachten statt bewerten 
Bevor wir reagieren, fragen wir: Was sehe ich gerade wirklich? Was ist der Kontext? Ein Kind, das beißt, ist kein „Problemkind“, sondern wahrscheinlich überfordert, müde oder sucht Nähe. Es ist wichtig, kindliche Signale zu sehen und ernst zu nehmen. 

2. Gefühle spiegeln statt ablenken
Sätze wie „Ist doch nicht so schlimm“ nehmen Kinder nicht ernst. Besser: „Ich sehe, du bist traurig. Ich bin da.“ Das hilft dem Kind, seine Gefühle zu regulieren. 

3. Erwachsene bleiben in der Verantwortung
Bedürfnisorientiert heißt nicht, dass Kinder alles bestimmen. Wir sind die „sicheren Leuchttürme“ – klar, zugewandt, präsent. 

4. Rituale und Rahmen bieten Sicherheit
Kinder brauchen Struktur – aber eine, die flexibel mit ihren Bedürfnissen mitwächst. Feste Abläufe helfen, aber sie dürfen nicht starr übergestülpt werden. 

5. Selbstfürsorge ernst nehmen
Wir können nur geben, wenn wir selbst halbwegs „voll“ sind. Bedürfnisorientierung bedeutet nicht, sich aufzuopfern – sondern auch die eigenen Grenzen zu achten. 

7. Bewusste Sprache wählen
Worte haben Macht. Sie können stärken und positive Gefühle wecken, sie können aber auch erniedrigen und verletzen. Sie prägen die innere Stimme eines Kindes: Wenn Kinder oft genug hören, dass sie nichts können oder nichts wert sind, glauben sie irgendwann selbst daran.  

8. Grenzen setzen – achtsam, klar und verbindlich
Grenzen bedeuten keine Einschränkung, sondern Beziehungsarbeit. Sie zeigen dem Kind: „Du bist mir wichtig – auch wenn ich Nein sage.“ Durch liebevoll, klar kommunizierte und gelebte Grenzen zeigen wir Kindern, wie Beziehung funktioniert. Indem wir unsere eigenen Grenzen spürbar machen, ermöglichen wir Kindern, auch ihre eigenen besser wahrzunehmen.

Ein Weg, keine Methode

Bedürfnisorientierte Pädagogik ist kein Rezeptbuch und keine Technik. Sie ist ein Weg, geprägt von Achtsamkeit, Beziehung und der tiefen Überzeugung, dass jedes Kind das Recht hat, gesehen und gehört zu werden. Sie ist unbequem, weil sie uns zwingt, genau hinzusehen. Sie ist herausfordernd, weil sie alte Muster sichtbar macht und unsere eigene Haltung immer wieder aufs Neue auf den Prüfstand stellt. Sie ist anstrengend, weil sie keine schnellen Lösungen bietet.  

Aber sie ist lohnend – weil sie Verbindung schafft. Und weil sie uns daran erinnert, worum es in der Pädagogik wirklich geht: nicht um Kontrolle, sondern um Beziehung. Eine sichere Beziehung ist das Fundament, auf dem Kinder ihr ganzes Leben lang bauen können.

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